
Der bedeutende Schweizer Komponist Xaver Schnyder von Wartensee (1786-1868) hat seinen musikalischen Nachlass testamentarisch der Zentralbibliothek vermacht, seine literarische Bibliothek aber der Museumsgesellschaft. Es handelt sich um gut 1200 Bände in verschiedenen Sprachen, zum grossen Teil aus dem 18. und dem frühen 19. Jahrhundert stammend. Darunter finden sich wertvolle Erstausgaben, seltene Zeitschriften und auch kleinere Schriften, die zusammengebunden wurden zu Sammelbänden. Einer davon soll hier kurz vorgestellt werden. Er enthält acht Schriften höchst heterogenen Inhalts. Da findet sich eine kleine Broschüre über den Deutsche Kindergarten, eine Schrift über die Glas-Harmonica (in englischer und deutscher Edition), eine Streitschrift des Schweizer Philosophen, Arzts und Politikers Ignaz Paul Vital Troxler, eine antiklerikale Kampfschrift eines gewissen Michael Biron. Dazu kommen, anonym und ohne Verlag 1822 erschienen: „Hundert und eine fragen oder Examen rigorosum eines kandidaten der naturphilosophie“ mit Fragen wie: „Warum halten es die weiber mehr mit dem kuchen und dem essen, und die männer mehr mit dem wein und dem trinken?“ oder: „Wäre es zu wünschen, dass wir vom leben mehr wüssten als wir wissen?“ und als letzte: „Lassen sich zur lösung all’ dieser fragen auch der winkel, triangel und zirkel mit vortheil gebrauchen?“
Hoch hinaus will ein Dr. L. Diefenbach, Pfarrer und Bibliothekar, der sich auf 121 Seiten nicht weniger vornimmt, als „Leben, Geschichte und Sprache“ (1835). Zwei Schriften verdienen besondere Erwähnung. Von einer soll hier die Rede sein. Sie ist 1844 in Bern erschienen und hat einen Titel, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: „Ruchlosigkeit der Schrift: ‚Dies Buch gehört dem König.’ Ein unterthäniger Fingerzeig, gewagt von Leberecht Fromm.“ Also eine Schmähschrift auf Bettina von Arnims Buch fiktiver politischer Gespräche der Frau Rat Goethe, in dem die Autorin Freiheit forderte und Beseitigung der sozialen Missstände – sie war naiv genug zu glauben, der preussische König Friedrich Wilhelm IV. könne und wolle die Verhältnisse mit einem Federstrich in ihrem Sinn verändern. Doch nein, was als Schmähschrift daherkommt, ist in Wirklichkeit blanke Ironie des keineswegs recht fromm lebenden Autors. Denn hinter dem Pseudonym steht der politische Agitator Wilhelm Marr (1819-1904), Sohn eines damals bekannten Schauspielers und Regisseurs. Er arbeitet zuerst als Commis, kommt 1841 nach Zürich und wird hier im Umkreis von Willhelm Weitling Kommunist. Nach einer sechswöchigen Agitationsreise durch die Schweiz wird er entlarvt und aus Zürich ausgewiesen. In Lausanne, wohin er sich nun wendet, nimmt er Kontakt auf zum Jungen Deutschland, doch scheint er seine revolutionäre Tätigkeit in erster Linie in den Dienst seines Geltungsbedürfnisses gestellt zu haben.1844 wird er Anarchist und im folgenden Jahr auch aus Lausanne ausgewiesen. Kurz darauf findet er sich in Hamburg, wo er nach der Märzrevolution als extrem linkes Mitglied der radikal-demokratischen Partei in die Hamburger Konstituante gewählt wird. Als sich seine Hoffnungen nicht erfüllen, wird er Vertreter einer preussischen Hegemonie in einem geeinten Deutschland. Schliesslich mausert er sich – links und rassistisch schliessen sich nicht aus – zum rabiaten Antisemiten und gar Wortführer dieser traurigen Bewegung.
Als er die „Ruchlosigkeit“ schrieb, war er noch Kommunist. In ätzender Ironie heisst es im Schlusskapitel: „So steht der Teufel denn entlarvt vor uns in seiner ganzen Scheusslichkeit, und der Name dieses finster drohenden Gespenstes ist: Communismus! – Zu drei Gebeten falte ich meine Hände. Das erste sende ich zum Himmel für Euch, meine christlichen Mitbürger, dass er Euch wahren und schützen möge vor den Fallstricken jenes bösen Geistes, dass er Euch die einzige Waffe gegen ihn verleihen und schärfen wolle: den festen, unerschütterlichen Glauben an Eure eigne und aller Menschen sündige Natur und an die Verdorbenheit der gesammten Welt – durch Adams Apfelbiss.“
Im nächsten Bulletin verraten wir, was es mit der zweiten besonders bemerkenswerten Schrift dieses Sammelbandes auf sich hat. Th. Eh. (Okt. 2007)
[Wilhelm Marr]: Ruchlosigkeit der Schrift: ‚Dies Buch gehört dem König.’ Ein unterthäniger Fingerzeig gewagt von Leberecht Fromm, Bern: Jenni 1844. Signatur: S 627.