
Nur gerade 25 Jahre alt ist er geworden: Wilhelm Waiblinger. Doch als genialischer Jüngling, geboren 1804 in Heilbronn, hat er mit Selbstbewusstsein und provozierendem Auftreten früh auf sich aufmerksam gemacht. Am Tübinger Stift, als Student der Theologie, hatte er eine Liebesaffäre mit einer fünf Jahre älteren Frau – der Skandal war perfekt. Er musste ihr mit Eid abschwören und rächte sich mit einem ausschweifenden Lebenswandel. Waiblinger war befreundet mit Mörike und besuchte den kranken Hölderlin regelmässig in seinem Turmzimmer am Neckar. Ihm hat er Phaeton, den Protagonisten seines gleichnamigen Briefromans (1823) nachgebildet. Er publizierte Gedichte und Erzählungen, schliesslich eine beissende Literatursatire: ‚Drei Tage in der Unterwelt’, mit dem Untertitel: ‚Ein Schriftchen das Vielen ein Anstoss seyn wird, und besser anonym herauskäme.’ Da er denn doch zu stolz war, es anonym erscheinen zu lassen, und weil er zudem einen Pflichtaufsatz verweigerte, war auch für das Tübinger Stift, das seinem poetischen und amourösen Treiben recht lange zugesehen hatte, das Mass voll: Kurz vor Abschluss wurde er 1926 von der Schule gewiesen. Er ging nach Rom, wo er sich als mittelloser Schriftsteller höchst kümmerlich durchschlug und in wilder Ehe mit einer Römerin lebte. Im Januar 1830 ist er an Schwindsucht gestorben.
Unser Exemplar der äusserst seltenen Ersausgabe der ‚Drei Tage in der Unterwelt’ stammt aus dem Nachlass von Xaver Schnyder von Wartensee. – Die Satire ist, bezogen auf ihre Lebensfähigkeit in späteren Generationen, ein schwieriges Genre: Oft sind ihre Objekte dem Tag verhaftet und längst vergessen, wenn die Satire immer noch gelesen sein will. Und wenn die Zielscheiben des Spotts nicht vergessen sind, so stellen sie sich der Nachwelt doch anders dar: Sie sieht sie historisch und kann, was sich einst bekämpft hat, nebeneinander gelten lassen. So geht es uns auch mit Waiblingers Literatur- und Kunstsatire, die sich einerseits an längst vergessenen Autoren reibt und die andererseits die Romantik in toto zugunsten einer an den Griechen orientierten sinnlichen Kunst bekämpft – obwohl der genialische Autor selbst durchaus Beziehungen zur Romantik, in diesem Fall zur schwarzen Romantik hat.
Der Held sitzt schwermütig an einem Herbstabend auf einem Friedhof, leidet an der Welt und der Liebe und findet, es sei auf der Welt nicht auszuhalten, wenn nicht „bis in die Höhlen der Verwesung“ der Humor „wie ein wahnsinnig gewordener Gott“ dahintaumle. So entschliesst er sich, „durch einen wunderbaren Selbstmord auf drei Tage von der Welt hier oben zu scheiden, und eine kleine kritische Kunstreise zu machen.“ Gesagt, getan, unser Held überschreitet den Styx, findet in einem Literaturkritiker und Schriftsteller den Unterwelts-Führer und trifft sie nun alle an, die Verfasser historischer Romane, die Romantiker, Wieland (dem er vorwirft, mit seinem „lasciven Geist der Wollust“ die natürlich-kraftvollen Griechen geschändet zu haben) – und er findet Phaeton, seinen eigenen, nun wahnsinnig gewordenen Helden, der ewig in einem Buchladen schmachten und jederzeit gewärtigen muss, von einem Rezensenten zerzaust zu werden.
Geschrieben ist das in einer Sprache, die deutlich mehr an die ‚Nachtwachen des Bonaventura’ erinnert als an die Klarheit der Griechen. Doch kann er diesen Gestus des wahnsinnigen Humors nicht durchhalten, verschiedentlich gleitet er in die Abhandlung und doziert zum Beispiel allen Ernstes über die Verwerflichkeit der Frauen, die Literatur machen wollen statt Kinder, oder über das Verhältnis von Christentum und Kunst. Zum Schluss dann, wieder ganz satirisch, spottet er über einen Vorlesungszyklus ‚unseres’ Hans Georg Nägeli: „Versuch, eine neue Logik zu gründen und die gemeinen, alten Termini mit dunkelm, genialem Unsinn umzustossen.“ Th. Eh. (Dez. 2007)
Wilhelm Waiblinger: Drei Tage in der Unterwelt. Ein Schriftchen das Vielen ein Anstoss seyn wird, und besser anonym herauskäme. Mit dem Motto: Nichts für ungut! Stuttgart: Gebrüder Franckh. – Signatur: S 870.