September 2015

Ballonmädchen

von Ina Spang
Jahresthema: Zitat
Monatsthema: Das Zitat für die Monate Juli bis September ist: «Erst die Fremdheit bringt den Kern des Selbst zum Vibrieren.» (Martin R. Dean, "Verbeugung vor Spiegeln", Jung und Jung 2015)

Ein Mädchen im Zug und sie steht da, steht da wie ich auf grauem Linoleum und ihre platten Füsse in weissen Sandalen. Alles wackelt, rund, der Bauch des Mädchens ein Ballon und in den kurzen fetten Fingern ein Löffel aus Plastik. Schaufelt blaues Wassereis in das Mädchen und alles holpert. Die Räder kreischen unter den weissen Sandalen, schrill, der Zug springt aus den Weichen, gleich, gleich, vielleicht, aber dann doch nicht. Und ihr Mund nur mehr ein blaues Loch, die Lippen eingefärbt und sogar die Zähne, alles getaucht in giftiges Blau, schlumpfblau, alles blau. Die Zunge schon dunkelviolett oder vielleicht auch schwarz und es riecht zuckrig, künstlich, klebrig. Jetzt auch noch der letzte rosafarbene Rand ihrer Lippen, blau, alles blau wie eine Krankheit. Und die Mutter, platinblond und sie steht daneben, hackt gelbe Lachgesichter ins Display, die Augen schon lange tot. Und die Ohren taub, obwohl es schmatzt, das Mädchen, und am Display baumeln Glitzersteine und sie klimpern nervös. Das Mädchen wackelt, verlagert das Gewicht auf die andere Sandale und keiner spricht, nur Schaufeln und Stampfen und Schmatzen und Klimpern und Kreischen und Rattern und dann eine Stimme, plärrt fremde Orte durch einen Lautsprecher, übersteuert, durchbrochen. Und wie ein muffiger Teppich legt sich eine Trostlosigkeit über das Innen, das Hier, über die Zugwelt, grau, alles. Und die Zeit vergeht nicht, steht, alles steht, obwohl die Landschaften vorbeiziehen, bleibe ich für immer hier eingesperrt, vielleicht, vielleicht, bestimmt. Und ich möchte nicht mehr hinsehen, möchte mich abwenden, aber ich kann nicht, kann nicht und muss in das blaue Loch starren. Wie es gestopft wird, als könnte man Einsamkeit mit blauer Zuckerfarbe ertränken, fort, ich wünsche mich fort. Und dass ich weiss, dass es mich nichts angeht, all das mich eigentlich nichts angeht, das Blaue, es hilft nicht, es hilft nicht. Schale Fadheit, grau und vielleicht auch blau, sie hat mich längst gefangen, wird mich festhalten, bis die Türen im nächsten Ort aufspringen und ich flüchten kann, zurück ins Leben, ins eigene Leben und ich stelle mir die Luft da draussen wie Freiheit vor. Nicht klebrig und nicht zuckrig und das Grau wird sich auflösen in Grün und das Blau vielleicht auch, vielleicht auch das Blau. Ich sehne mich nach draussen, will durch die Felder laufen, springen, die da hinter dem Glas flirren und trotzdem weiss ich es, das blaue Loch bleibt, wird bleiben, tagelang vor meinen Augen und es wird mich verschlucken. Ich muss hineinkriechen in das blaue Loch, mich ergeben, miterleben, wie es dort ist. Dort, im Inneren des Ballonmädchens, muss mir einen Namen für sie ausdenken und eine kleine Nachbarin, die in der Schule neben ihr sitzt und ihr hoffentlich ein warmes Gefühl schenkt. Sehe sie morgens aufstehen und ihre zerschlissenen Leggins über die fetten Beinchen ziehen und aus der Küche höre ich die Mutter, sie schreit, zu spät, mach hinne, jeden Tag das gleiche Theater. Und dass ihr Mund noch blau ist, von gestern, das merkt das Ballonmädchen nicht, wie auch und die Mutter sieht nur gelbe Lachgesichter und Herzchen und den Toast gibt es so auf die Hand. Als hellen Lappen, denn für alles andere ist schon lang keine Zeit mehr. Und zusammen mit dem Ballonmädchen trete ich aus der Wohnung, trete aus dem grauen Betonklotz und sie nimmt meine Hand, zieht mich, kalt und klebrig sind ihre Finger, komm, ich zeig dir meine Welt und ich will schreien, nein, nein, bitte, ich ertrag es nicht, es zerreisst mein Herz. Aber sie zieht mich mit und dann, der rosafarbene Kaugummi in ihrem Mund, er formt sich zu einer Blase und sie wird grösser, grösser und ich schreie, nein, aufhören und dann macht es peng. Ich zucke zusammen, die Blase platzt und das Ballonmädchen auch und überall nur noch Fetzen von Rosa und Blau und zwei weisse Sandalen fliegen durch einen Schwarm Mücken.

Als sich die Zugtüren öffnen, da springe ich hinaus, hinaus in die Freiheit und leise rufe ich: „Ade Ballonmädchen – deine Geschichte hab ich erzählt.“