März 2015

Blau und Braun

von Sabine Breitbach
Jahresthema: Zitat
Monatsthema: Januar - März: "Der Mensch ist einer, der etwas stattdessen tut." (Odo Marquard)

An diesem Freitag machte er früher als gewöhnlich Feierabend und ging ins Museum. In der Kunsthalle wurden impressionistische Landschaften gezeigt. Die Bilder zeigten immer wieder den gleichen Berg, aus unterschiedlichen Perspektiven, zu verschiedenen Tages-und Jahreszeiten, in wechselnden Lichtstimmungen. Er tauchte ein in diese ihm fremde Landschaft mit ihren kleinen Dörfern und Wäldchen, den immer gleichen Berg meist im Hintergrund oder auch als einzelnes Motiv unter einem großen, mal bewegten, mal klarblauen Himmel. Zuerst lief er durch alle Säle und ließ auf sich wirken, was er sah. Dann machte er die gleiche Runde noch einmal und hatte schon seine Favoriten gefunden. Schließlich blieb er vor einem Bild stehen, schaute lange, überhörte den Gong zum Ende der Öffnungszeit und riss sich erst los, als die Aufsicht ihm auf die Schulter tippte und ihn sehr nachdrücklich darum bat, doch jetzt bitte das Museum zu verlassen und vielleicht an einem anderen Tag wiederzukommen. Er trennte sich nur schwer und schüttelte mühsam den verwirrenden Gedanken ab, er habe sein halbes Leben unter diesem Berg verbracht und nun, da er ihn endlich wiedergefunden hatte, und von einem Gefühl gequält, das doch gar kein Heimweh sein konnte, fand er nur langsam zurück in die neonbeleuchtete Wirklichkeit aus Beton und Autoblech.

Auf seinem Weg nach Hause verlor er den Eindruck von Weite, Luftigkeit und südlicher Wärme, doch der Berg und die Dächer davor, auch das Dach, unter dem er einen Augenblick lang geglaubt hatte gelebt zu haben, blieben ihm in Erinnerung, so wie eine unklare Sehnsucht und die vorherrschenden Farben: Blau, der Himmel, der Berg, sogar die Bäume, Braun die Dächer, die Felder, die Erde. Blau und Braun.

Blau und Braun, schwärmte er am Abendbrottisch und stieß dort auf Unverständnis. Sein Sohn kaute stumm weiter, seine Tochter guckte erst zweifelnd und musste dann lachen über seine sonderbare Begeisterung und seine Frau ergriff die Gelegenheit, anzumerken, dass sie zu ihrem neuen blauen Mantel unmöglich die braunen Schuhe tragen könne.

Blau und Braun, erzählte er einem Kollegen im Büro, dem er mehr künstlerischen Sachverstand zutraute, am darauffolgenden Montag. Aber auch der schaute skeptisch und sagte, Blau und Braun, wenn er seinen Eindruck nicht genauer beschreiben könne, wäre das ungefähr so erschöpfend, wie wenn er von Menschen nicht mehr zu erzählen wüsste, als dass sie blaue oder braune Augen hätten.

Blau und Braun, sagte er am nächsten Freitag und sein Blick wechselte hin und her zwischen der braungebrannten Haut und dem königsblauen Kittel des Verkäufers hinter dem linoleum-braunen Tresen des Schreibwarenladens. Der verkaufte ihm aber dann doch gleich ein ganzes Sortiment Aquarellfarben und empfahl dazu einen langhaarigen elastischen Marderhaarpinsel. Ganz hervorragende Qualität! betonte er gleich mehrmals, während er Papier und Pinsel und den Blechkasten mit den Farbnäpfen mit geübter Hand in zweifarbiges Packpapier wickelte, eine Seite helles Braun, vielleicht sandfarben, die andere Seite stahlblau.

Als er mit dem Paket unter dem Arm aus dem Laden kam, musste er schon selber lachen über sich und seine nun ebenso sonderbar eingeschränkte wie scharfe Wahrnehmung.

Blau und Braun, ging es ihm auch noch durch den Kopf, als er am nächsten Wochenende seinen Arbeitstisch im Wohnzimmer freiräumte, Reißschiene, Lineale und das übrige tägliche Arbeitsgerät beiseite legte, einen Bogen Papier anfeuchtete und auf die Tischplatte klebte, Farben, Pinsel, ein großes Glas Wasser bereitstellte und einen Lappen zurechtschnitt. Als erstes machte er eine Skizze, versuchte aus der Erinnerung die Form des Berges zu zeichnen, die verschachtelten Dächer davor, den Himmel darüber. Dann schaute er lange auf das Blatt, den rechten Zeigefinger an den rechten Nasenflügel gelegt, denkend und rauchend.

Später griff er doch noch einmal zu der vertrauteren Reißschiene und dem Winkel, zeichnete mit spitzem Bleistift ein sauberes Raster auf ein neues Blatt, trug Schicht für Schicht lasierend Farbe in den Kästchen auf und dokumentierte mit seiner präzisen Schrift am Rand, welche Farben er übereinander gelegt hatte. Dazu brauchte er den ganzen Nachmittag, denn die Farben mussten zwischendurch trocknen. Seine Tochter schaute nur kurz herein.

Was soll das werden? fragte sie, und guckte sich die quadratischen farbigen Flächen an, während er bei einer weiteren Zigarette darauf wartete, dass die Farbe trocknete, damit er die nächste Schicht, ein zartes Aquamarin, auftragen könne.

Was soll das werden? Das war nur ein paar Jahre früher noch die Einleitung eines Spiels gewesen, wenn die Kinder, schon im Schlafanzug, mit Block und Bleistift zu ihm kamen und so lange bittend und quengelnd an seinen Knien lehnten und ihn belagerten, bis er umständlich den Stift mit dem Taschenmesser spitzte, währenddessen schon im Raum herumschaute und sich für irgendetwas Winziges entschied: Die Schraube in einem Türbeschlag, den Henkel einer Tasse, den Daumennagel seiner linken Hand. Ein paar Jahre war das her.

Was soll das werden? fragte seine Tochter auch heute wieder.

Eine Farbskala … fing er endlich an, aber da war sie schon wieder weg.

Am frühen Sonntag, im noch bläulichen Morgenlicht, sah alles irgendwie verkehrt aus. Die Farben schienen sich über Nacht verändert zu haben. Einzelne, die er als vielleicht verwendbar markiert hatte, gefielen ihm jetzt gar nicht mehr. Er begann noch einen Bogen und noch einen mit diesen sauber ausgemalten Quadraten zu bedecken, das dauerte den ganzen Sonntag. Zwischendurch, während die Farben trockneten, machte er eine weitere Skizze, und noch eine aus einer anderen Perspektive.

Dann war das Wochenende vorbei, er räumte alles weg und wischte die Tischplatte sauber. Die Woche über füllte er große Transparentpapierbögen mit Grundrissen, abends und am Wochenende oft auch zu Hause, an dem Tisch zwischen Bett und Sofa. Da war kein Platz für Farben.

Am Montag zeigte er die Skala seinem Kollegen. Saubere Arbeit, sagte der, aber weißt du, wie viele Farben das geübte menschliche Auge differenzieren kann? Zwei Millionen, gab er gleich selbst die Antwort. Zwei Millionen.

Das war erstaunlich. Und gleichzeitig entmutigend. Obwohl es wenigstens nicht ganz so schwierig schien wie die 6 Milliarden Menschen auf der Welt zu differenzieren, wenn man mehr über sie sagen wollte als dass sie blaue oder braune Augen hätten. Und außerdem, so fuhr der Kollege fort, würde man über Farben nicht viel erfahren, wenn man sie isoliert betrachtete. Sie würden sich in anderer Umgebung oder unter anderem Licht rätselhaft verändern. Da kam er sich ein wenig blöd vor. Wie hatte er das vergessen können?

Am nächsten Wochenende begann er seine Farbmusterbögen zu zerschneiden und auf unterschiedlich farbiges Tonpapier zu legen, in Gruppen zu zweit, zu dritt, zu viert, verwandte Farben, Kontraste … Wieder saß er da mit dem Finger an der Nase und der Zigarette im Mund. Er legte die Farbmuster beiseite, blätterte in den Skizzen und war sich nicht mehr sicher, ob es noch sein Berg war. Seine Erinnerung war zusammengeschrumpft auf diese beiden Wörter, Blau und Braun.

Wieder kam seine Tochter herein und wieder stellte sie diese Frage:

Was soll das werden?

Es hatte auch ihm Spaß gemacht.Wenn er den ersten Strich gemacht hatte, war noch gar nichts zu erkennen, aber die Kleinen fingen trotzdem schon wild zu raten an, ein Wettbewerb zwischen ihnen, bis sie merkten, dass das Spiel länger dauerte, wenn sie sich Zeit ließen mit der Lösung, aber doch wieder nicht so viel Zeit, dass er glauben musste, seine Zeichnung sei nicht gut.

Eine Zeit lang sah seine Tochter ihm zu, wie er Farbmuster und Skizzen hin und her schob, schüttelte dann den Kopf und ging wieder. Doch sie holte nur ihr Malzeug, setzte sich damit neben ihn an den Tisch und begann zu malen. Und er begann eine neue Skizze.

Eines Morgens fragte ihn sein Kollege, wie es denn voran ginge, und er gab nur ungern und ein wenig beschämt zu, dass er immer noch mit seinen vorbereitenden Übungen beschäftigt sei, während seine Tochter jetzt manchmal neben ihm säße und Blatt um Blatt fülle.

Nachdem er nun schon einige Male probiert hatte, sein Bild zu malen, seine Versuche dann aber regelmäßig an den folgenden Samstagen einer so scharfen Prüfung unterzog, dass er sie doch in den Papierkorb warf, war es so weit.

Er zeichnete fünf Linien wie leicht gekrümmte Horizonte, so dass der Eindruck eines Hügels entstand. Kein Berg mehr, sondern ein Hügel, wie erodiert von den vielen Malen, die er ihn gezeichnet hatte. Auf die Linien stellte er stilisierte Bäume mit kreisrunden Kronen. Ihre schmalen Stämme teilten die entstandenen Streifen in kleinere Flächen. Schicht für Schicht legte er jetzt Farbe zwischen die Linien. Sorgsam achtete er darauf, dass sie nicht ineinanderliefen. Wochenende für Wochenende machte er Platz auf seinem Arbeitstisch, nahm sich das Blatt noch einmal vor und legte vorsichtig weitere dünne Schichten Farbe übereinander. Allmählich verlor sich die südliche Luftigkeit und Transparenz und musste einer niederrheinischen Gewichtigkeit Platz machen, lehmig-tonig lagen die Farben jetzt auf dem Papier. Zum Schluss war eine fast filzige oder erdige Dichte entstanden. Fünf Horizonte, leicht gewölbt, in gelblichen und grünlichen und rötlichen Brauntönen, die Kreise der Baumkronen in immer noch südlichem Türkisblau schienen darüber zu schweben, am Boden gehalten nur durch ein schmales Band. Darüber ein schmaler blasser Streifen Himmel. Irgendwo unter dem Hügel, aber das sah nur er, lag immer noch sein Berg.

Das Bild legte er in seine Mappe zu den Farbproben und die Mappe dann auf den Schrank. Er räumte den Marderhaarpinsel, der immer noch aussah wie neu und den Blechkasten mit den fast leeren Farbnäpfchen in die untere Schublade seines Tisches. Denn von nun an würde dieser Tisch wieder nur sein Arbeitstisch sein.