Februar 2017

Der Karton

von Maike Frie
Jahresthema: Erste Sätze
Monatsthema: «Es regnete stundenlang, nächtelang, tagelang, wochenlang.» (Friedrich Dürrenmatt, Grieche sucht Griechin)

Es regnete stundenlang, nächtelang, tagelang, wochenlang. Zuerst war der Pappkarton durchweicht, der auf dem Terrassentisch stand. Wie immer hatte Holger den Tisch zurückgeschoben, als er mit seinem letzten Bild fertig geworden war, aber ebenfalls wie immer hatte er ihn nicht weit genug zurückgeschoben, sodass eine Ecke nicht vom Vordach geschützt war. Auf dieser Ecke – vorne links – stand mein Pappkarton. Ich stand hinter dem Wohnzimmerfenster und schaute dem Karton beim Schmelzen zu. So wirkte es auf mich. In den ersten Minuten des einsetzenden Regens sog sich der Deckel voll Wasser, die hellgraue Pappe zuerst hier und da dunkler gesprenkelt; dann breiteten sich die feuchten Flecken aus, bildeten ein Netz wie ineinander verschränkte Hände, zogen zu den Rändern hin und liefen schliesslich an den Seiten herunter. Nach einer Weile war der komplette Deckel vollgesogen und so düster wie die regenverhangene Luft.

Weiter und weiter prasselte der Regen in den Garten, auf den nicht überdachten Teil der Terrasse, den Tisch, meinen Karton und alles, was dort noch so herumlag. Mal stärker, mal schwächer – als ich in die Küche rollte und die Hand dort aus dem Fenster streckte, dachte ich, dass es beinahe nur noch feuchte Luft wäre, kaum noch Regen –, doch dann kam eine neue Windböe und mit ihr wieder die prasselnden Tropfen. Stundenlang, bis der Deckel des Kartons so eingedrückt war, dass das Wasser wie in kleinen Pfützen auf ihm stand.

Irgendwann war die Pappe so aufgeweicht, dass der Deckel einzureissen begann. Als das Wasser sich nach ein paar Tagen und Nächten erst einmal seinen Weg durch die Zellulose gebahnt hatte, gab es kein Halten mehr. Immer tiefere Risse grub der Regen, sprengte die Fasern auseinander, schwemmte die Wände des Kartons nach links und rechts und vorne und hinten weg, sodass sie das Innere allmählich meinem Blick freigaben – als ob ich nicht genau gewusst hätte, was darin war –, zerfetzte den Deckel, der wie kleine Inseln auf dem Inhalt klebte: Meine Medikamentenschachteln, die nach einer Woche Dauerregen ebenso aufgeweicht waren wie die äussere Verpackung. Die Fläschchen schälten sich aus ihren Verpackungen, die Tablettenblister fuhren auf den Pappresten wie in Booten über den Tisch.

Ich stand noch immer hinter dem Wohnzimmerfenster und schaute dabei zu, wie meine Welt unterging. Zwischen meinen Fingern glaubte ich verklebte Pulverklümpchen zu spüren, als ob sich der Regen inzwischen auch durch die Plastikverpackungen gebohrt haben könnte. Dabei war es nur meine Haut, die klebte und sich hügelig anfühlte, weil ich zu wenig trank und ass und meine Dosierungen so stark heruntergefahren hatte, dass auch aus meinem Körper die Medikamente allmählich herausgeschwemmt worden sein mussten wie die auf der Terrasse aus dem Karton.

Abgesehen von dem tauben Gefühl in den Fingerspitzen wurden meine Hände allmählich zu schwach, um die Räder des Rollstuhls zu wenden und in die Küche zu lenken. Die Wasserflaschen, die ich erreichen konnte, waren bis auf eine leer, aber ich konnte immer noch einen Becher aus dem Küchenfenster in den Regen halten. Der hatte also auch sein Gutes, er erhielt mich am Leben. Seine letzten Einkäufe hatte Holger zum Glück noch nicht in die Schränke geräumt, aber von den Keksen und Bananen war ebenfalls kaum noch etwas übrig.

Wie oft hatten wir darüber gesprochen, dass wir das Haus umbauen müssten, die Schwelle auf die Terrasse entfernen, die Stufen vom Eingang in den Wohnbereich mit einer Rampe versehen, die Tür zum Badezimmer verbreitern – aber es war bei diesen Gesprächen geblieben. Genau so, wie ich Holger wieder und wieder darum gebeten hatte, das Telefon in meiner Reichweite liegen zu lassen und mein Handy nicht auf der Anrichte aufzuladen. Er hatte dies an sich abprallen lassen wie alle meine anderen Bitten – zum Beispiel, den Terrassentisch wieder ganz unter das Vordach zu schieben, wenn er mit dem Malen aufhörte. Aber, ach, ich konnte ihm heute nicht böse sein, wenn ich ihn dort liegen sah, neben dem Terrassentisch, ebenfalls vollgesogen vom inzwischen wochenlang andauernden Regen. Von den Haaren bis zu den Schuhspitzen, die unter dem Vordach beinahe bis an die Wohnzimmertür stiessen, aber der Regen hatte sich auf ihm und an ihm auch bis dahin vorgearbeitet. Es wird wohl ein Herzinfarkt gewesen sein, der ihn dort niedergestreckt hat, so nah und doch unerreichbar weit für meine Arme, die das einzige ausser meinem Kopf sind, das noch funktioniert, wie es soll.

Manchmal in den vergangenen Tagen und Wochen habe ich mir gewünscht, mein Kopf wäre nicht mehr intakt, denn so habe ich nur noch ihn. Und er ist grossartig darin, darüber zu spekulieren, was zuerst passieren wird: Dass Holgers Kleidung und Haut vom Regen so durchweicht wird, dass sie sich bei jedem weiteren Einschlag öffnen und ihn irgendwann der Auflösung preisgeben wird, oder dass mein Körper hier im Trockenen aufgibt. Abwenden kann ich mich nicht, ich werde hier ausharren hinter meiner Terrassentür und uns beiden zusehen, bis zum Schluss.