Mai 2006

Ein Brief aus Amerika

von Can Pestanli
Jahresthema: Bildbeschreibung
Monatsthema: Zu Gustave Caillebotte, «Badende am Ufer des Flusses Yerres»

Ein Brief aus Amerika

Lieber Sebastian,

ich würde liebend gerne Dein Gesicht sehen, jetzt, wo Du auf das Papier blickst und versuchst, Dich in meiner Handschrift zurechtzufinden. Blickst Du ernst? Oder legst Du den Brief beiseite und wartest einen Moment, bevor Du mit Lesen anfängst? Ob Du wütend wirst? Ein Brief? Von ihr?

Ich habe die ersten Sätze in den Computer geschrieben. Aber das ging nicht. Es vertrug sich nicht mit der Geschwindigkeit meiner Erinnerung. Ich finde, sie ist langsamer, irgendwie ausgedehnter. Als ich schrieb, stolperte ich ständig in die Stimmung, in der ich Mails schreibe. Wenn es klack klack macht und der Curser blinkt.

Mir ist nach Erinnerung zur Zeit. Ich komme gar nicht raus aus ihr. Warum auch? Ich geniesse das schwerelose Wandern in ihr. Es ist wie eine Vorbereitung. Nur in die andere Richtung.

Ich liege über den Bäumen. Vor meinem Fenster ist der Himmel immer blau. Ich würde gerne die Baumkronen sehen und die Vögel auf den Ästen. Dr. Gordon hat mir gesagt, dass ich die Erste bin, die umgelegt wird, wenn es freie Plätze im fünften Stockwerk gibt. Er hat sehr liebe Augen. Ich habe ihn noch nie aufgeregt gesehen. Ob der wohl arbeitet? Am Anfang dachte ich, er wandle nur von Zimmer zu Zimmer, frage wie es uns geht. Hört zu. Schaut in unsere Gesichter und öffnet die Vorhänge, wenn die Sonne scheint.

Ich bin in Kalifornien. Du weisst, mich hat Amerika nie besonders angezogen. Ausser New York.

Warum schreibe ich Dir? Ich weiss nicht. Ich wusste nur: Dir schreibe ich. Vielleicht, weil ich Deine Augen nicht loswurde. Oder weil das Ende abrupt war und irgendwas fehlte. Die Erinnerung ist mir nahe geworden in den letzten Monaten. Aber an die Zeit mit André denke ich keinen Moment. Du, André und ich, wir drei – in diesen Bildern ist mein Leben versteckt. Aber was dann kam? … – ich weiss nicht. Auf einmal verstummte etwas. Er kaufte das Haus und Du gingst weg. Ich wollte Deine Mutter nicht anrufen und fragen, was Du machst. Ich dachte, das geht nicht. «Du hast Dich entschieden», hast Du gesagt, «du willst zu André, gut, ich gehe.»

Nach drei Jahren hat mich André verlassen. Mir kam es vor, als ob er es bereits am ersten Tag getan hätte. Er stand oft auf dem Balkon und schaute irgendwohin. In seinem Gesicht konnte ich kaum etwas lesen. Manchmal dachte ich, er wünsche Dich zurück und die Zeit, als wir spielten; im Wasser, auf den Dächern, in den Cafés. Vielleicht dachte er einfach nur an seine Geschäfte und genoss seinen Triumph. Immerhin: ich war bei ihm. Nicht bei Dir. Ich weiss nicht. Wir haben kein Wort über die Zeit gesprochen.

Als wir schliesslich zusammen waren, war er wie verwandelt. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sein Kiefer grösser geworden sei und das Gesicht schwerer und blasser. Wenn er zuhause war, stand er auf dem Balkon, griff mit beiden Händen um das Geländer und schaute irgendwohin.

Ich konnte in der Zeit kaum etwas sagen. Ich war leer irgendwie und nicht da. Nur manchmal habe ich mich gefragt, ob das noch Teil des Spieles sei. Dass ich jetzt mit André in diesem Haus wohne und Du weg bist und keiner weiss, wo Du bist. – Was war es sonst? Ernst? Leben? Eine Spielpause? Ich wollte André gerne fragen, was er denkt. Ich konnte nicht. Wenn wir uns in die Augen blickten, war alles weg. An einem dieser Tage teilte er mir mit, dass er zu einer neuen Frau gehe und dass ich das Haus behalten könne, wenn ich wolle. Mir war, als ob ich seine Worte nicht gehört hätte. Ich fühlte nichts und sagte «Ja».

Drei Wochen später kam die Diagnose. Eigentlich zufällig. Mein Vater hat mich gefragt, warum ich nicht mehr zu Besuch komme und ob ich krank sei. Ich sagte ihm, dass André gegangen sei aber das es mir gut gehe. Er glaubte mir nicht, stand am nächsten Tag vor der Haustüre und brachte mich zwei Monate später zum Flughafen. Hier liege ich jetzt. Endlich mal weisse Betttücher am laufenden Band. Und warme Luft.

Ich glaube, ich habe André nicht geliebt. Als Du mich vor die Wahl gestellt hast, er oder Du, habe ich «André» gesagt. Ich konnte nicht sagen «Nicht Du, Sebastian». Ich konnte nur sagen «André». Du warst mir lieber als er. Ich dachte, du wüsstest das und würdest lachen.

Als wir zu dritt waren, habe ich ihn geliebt, weil es Dich gab. Dich konnte ich auch ohne ihn lieben. Ich versuchte herauszufinden, was war, als ich mich entschieden hatte. Aber der Moment scheint mir in der Erinnerung verdeckt von allerlei anderen Dingen. Wenn ich mir vorzustellen versuche, wie Du mich angeschaut hast, verschwimmen Deine Gesichtszüge und gleich sehe ich uns drei, wie wir unterwegs sind, laufen, nachts durch Gärten schleichen und unsere Sachen machen.

Mir macht das nichts mehr, wenn die Bilder verschwimmen.

In der ersten Zeit war das anders. Ich wollte Richterin sein und streng mit meinem Leben verfahren. Es ist ein Wink des Schicksals, dass ich hier liege, dachte ich. Blicke auf Dich und nutze den Ernst der Einsamkeit. Frage Dich: Wo war der Wendepunkt? Wo bist du gescheitert? Welche waren die falschen Entscheidungen?

Es ist schwierig, mit strengen Falten auf der Stirn das eigene Leben zu betrachten, wenn man aus dem Fenster blickt und dauernd die Sonne scheint. Ich wurde müde daran. Warum urteilen? Warum muss ich sagen, wie mein Leben gewesen ist? Keine Ahnung. Ich habe damit aufgehört. Ich will in den Bildern leben. Und nicht darüber hinausgehen. Warum auch? Als ob irgendwo, in einer Ecke der Erinnerung, der entlegene Sinn versteckt wäre, als ob die Bilder sein Zulieferer wären und er der goldene Ring.

Es könnte doch auch anders sein? Die Bilder sind schon alles. Das wirkliche Leben ist nicht in den Bildern versteckt oder an einem unbekannten Ort dahinter. Und weisst Du was? Seitdem ich so in der Erinnerung lebe, gehen die Türen auf. Am Anfang ging es nicht. Vielleicht, weil ich so verbohrt war wegen meiner Fragen.

Ich habe mir ein Spiel ausgedacht. Es ist so ähnlich wie das mit der Insel und einem Gegenstand, den man mitnehmen darf. Ich habe eine neue Variante. Man geht in die Erinnerung und darf sich ein Bild aussuchen. Das ist wie Einkaufen. Ich komme mir dabei vor wie eine Pharaonin, die in ihrem Reich nach dem schönsten Schmuck Ausschau hält und zugreift, wenn sie Lust dazu hat. Meine Einkaufsrunden werden immer länger und lustvoller. Dabei gibt es keine Öffnungszeiten. Ich kann die Ladentüren auf- und zumachen, wann ich möchte. Es gibt zum Beispiel eines, bei dem der Mond schief in der Nacht hängt. Darunter fahren die Autos auf einer erleuchteten Landstrasse. Ich mag es aber mehr wegen der Geräusche der Autos und dem gelben Schein der Strassenlaternen. Haben Bilder Töne? Das wird schwierig für den Maler. Ausserdem ist kein Mensch auf dem Bild. Man weiss höchstens, dass hinter dem Steuer einer sitzen muss. In der Kategorie Stillleben hat es aber den ersten Platz.

Auf dem Bild, das ich mitnehme, sind André und Du drauf. Wir waren baden. Du hast Deine blaue Badehose an. Nicht die kurze rote. Du hast den Moment sicherlich vergessen. Mir wäre er auch nicht mehr eingefallen. Aber jetzt, wo ich so viel liege, habe ich Zeit dafür. Ich muss lachen, wie ich Dich aus dem Wasser gehen sehe – schwer, wie ein nasser Hund. Dein Kopf ist zu Boden geneigt und Deine Arme stützen sich am Uferrand ab. Es ist der Moment, in dem Dein linkes Bein noch im Wasser ist und das rechte zum Schritt ansetzt. Ich war als Erste wieder draussen, stehe auf der Wiese und sehe André auf dem Holzbrett, wie er zum Sprung ansetzt, und Dich – mein lieber Pudel.

Ich dachte manchmal, Du verachtest André für sein sportliches Gebaren. Für seine Muskulatur und seinen Willen, alles zu bezwingen, was in irgendeiner Weise Gegner sein könnte. Sei es das Wasser, ein Bordstein oder eine zerdrückte Büchse am Strassenrand. Weisst Du, ob er je bei einer Sache verloren hat? Ich kann es mir kaum vorstellen. Seine Augen waren immer klar und schauten nach vorne. Ich glaube, er zweifelte höchstens daran, ob die anderen mitmachen würden, bei dem, was seine gelungene Sache sein würde. Ich war von seiner Sicherheit so überzeugt, dass ich auf mich selbst gar nicht achtete, als er mich fragte, ob ich mitkommen wolle zu ihm. Ich sagte «Natürlich». Als ob es an seinem Weg keinen Zweifel gäbe.

Und während Du aus dem Wasser steigst, setzt er locker zum nächsten Sprung an.

Ich selbst bin auf dem Bild nicht zu sehen. Es ist aus meiner Perspektive. Ich drückte meine Nase in das Handtuch und fror ein wenig. Es ist schön zu frieren, wenn die pralle Sonne scheint. Das ist wie Hungerhaben und das Hähnchen riechen. Ich mag den Duft von frischen Handtüchern und die Vorstellung, wie der Fliess meine Wassertropfen aufsaugt.

Ich möchte das Bild mitnehmen, weil alles an diesem Tag in Blau getaucht ist. Und weil nichts entschieden war. Wir waren zusammen. Wir dachten an nichts und blieben so.

Du widersprichst mir sicherlich und wendest ein, dass jeder von euch beiden im Stillen seine Rechnung machte und auf den Moment wartete, bis er mich für sich haben könnte. Das mag sein. Aber wenn ich auf das Bild schaue, ist nichts davon zu sehen. Es ist ein Sommertag. Wir badeten. Wir lachten, bis es dunkel wurde und so fort. Es ist nicht nur die Erinnerung, die schwerelos ist. Es gibt auch ganze Tage, die so sind. Schon während man sich in ihnen befindet. Was es dazu braucht? Ich habe nur eine Vorlage, um das zu sagen, und behaupte: einen Sommer, etwas Männliches und Weibliches und dazwischen den Angelhaken der Liebe.

Was hast Du gemacht? Bist Du gewandert? Ich dachte oft, Du läufst und läufst. Fährst mit dem Zug von einer Stadt in die andere und Dein Kopf ist zu Boden geneigt. Und zwischen Deinen Augen und dem Boden war das Bild meines Gesichtes. Was frage ich! Ich weiss, was Du gemacht hast, weil ich Dir von unten stets entgegenblickte.

Meine Wanderungen waren kleiner. Andrés Haus hatte zwei Etagen und einen grossen Garten. Darin bin ich umhergestreift. Ich blickte abwesend auf dies und das und machte meine Runden. Warum gehe ich nicht zu Dir, fragte ich mich. Aber stimmt, antwortete ich mir, wohin denn? Ob ich gegangen wäre, wenn ich gewusst hätte, wo Du lebtest? Ich weiss nicht. Ich hatte keine Kraft für weite Wege. Ich war jeden Abend furchtbar erschöpft. Ob das von der Landluft kam und von der Ruhe? Ich schlief viel, las ein wenig und kochte manchmal. Meistens bestellten wir etwas.

Eine Nacht gab es, da konnte ich nicht einschlafen. Mir wollte das Bild nicht aus dem Kopf gehen, das ich am Nachmittag gesehen hatte. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. War es makaber? Nur ein Scherz? Obwohl mir die Fragen durch den Kopf schossen und André neben mir lag, spürte ich keinerlei Impuls, ihn zu fragen.

Wir hatten einen kleinen Gartenteich mit einigen Rosen und Blumen am Rand. Wir hatten uns damals entschieden, keine Fische zu besorgen. Wegen der Pflege. Als ich an jenem Nachmittag herunter in den Garten zum Teich ging, erblickte ich im Wasser drei Fische. Drei dunkle Fische. Ich wollte erst schreien und André fragen, was das soll. Doch ich sah die Fische, wollte schreien, verstummte sofort und konnte meine Augen nicht von dem lassen, was sie sahen. Sie kreisten im Wasser und bogen ihre Körper.

Bis er auszog, verloren wir kein Wort darüber. Ich denke, er fütterte sie am Morgen, bevor er zur Arbeit fuhr. Es kann sein, dass er auf den Teich blickte, wenn er auf dem Balkon stand.

Du kannst immer kommen, wenn Du magst. Ich kann Dir leider kein Zimmer anbieten. Aber es gibt sehr günstige Motels. Und die grossen Naturparks und San Francisco. Auf dem Rückweg könntest in New York vorbei oder nach Florida. Wenn Du schon mal da wärst, könntest Du das nutzen. Es gäbe viel zu sehen.

Ich würde gerne mitkommen. Leider kann ich nicht sagen, wie es hier weitergeht. Und Dr. Gordon kann es mir auch nicht sagen. Es ist alles offen. Ich muss warten, was die nächsten Untersuchungen ergeben.

Aber passt das nicht gut? Es ist noch nichts entschieden. Und immer, wenn es so war, ging es mir am besten. Am liebsten möchte ich Dir sagen, dass wir anschliessen könnten an den Sommertag, als wir badeten. Aber das klingt so sehr nach Illusion und passt nicht zu einer Sterbenskranken. Du kämst zu mir, würdest an der Bettkante warten, und wenn alles vorbei ist, würden wir baden gehen. Das ist sentimental, nicht wahr? Ich hätte trotzdem Lust drauf.

Vielleicht hättest Du mich auslachen sollen, als ich «André» gesagt habe. Ich hätte meine Spassmacherei für einen Moment vergessen und wäre zu mir gekommen.

Aber mich für Dich zu entscheiden, hätte bedeutet, bei meinem Leben bleiben. Das schien mir so gewöhnlich. Ich wollte etwas anderes. (Das passt, nicht wahr, etwas anderes wollen, klingt fast wie André wollen.)

Etwas ist mir noch eingefallen. Je mehr ich in der Erinnerung lebe, desto mehr habe ich das Gefühl, mich zu häuten. Ich liege auf dem Bett, das Auge in die Vergangenheit gerichtet, und beobachte, wie ich immer weniger mit mir zu tun habe. Ich habe manchmal riesige Lust, etwas zu machen, das ich noch nicht kenne.

Ich habe einmal einen Salamander gesehen, als er gerade seine Haut ablegte und weiterkrabbelte. Das war in Spanien. Ich fand, was er tat, irgendwie sehr einfältig. Er sah nämlich anschliessend genauso aus wie zuvor. Schwarz mit gelben Punkten. Wenn sich wenigstens die Farbtupfer ändern würden, mal violett, mal rot oder blau. Und je mehr ich sehe, was ich früher gemacht habe, wie ich den Leuten die Hand gab, wie ich am Tisch sass beim Essen oder wie ich ein Buch las und mir tausend Dinge durch den Kopf gingen, je mehr ich mich also an mir vorbeispazieren sehe, desto weniger bin ich die, die ich da sehe. Das stimmt nicht ganz. Ich bin es schon, aber anders. Als ob ich zum ersten Mal wieder die Catherine wäre, nur rundherum erfrischt. Dieser Zustand ist aber nicht währenddessen da, sondern danach, wenn ich wieder in meinem Zimmer bin. Ich würde gerne eine Praxis für Erinnerung aufmachen, dann könnte man diese Sachen genau untersuchen.

Ich schicke den Brief an die Adresse Deiner Mutter. Wenn sie Dich sieht, kann sie ihn Dir geben.

Bis bald vielleicht

Deine Catherine