November 2021

Alles, was Sie von nun an sagen

von Markus Peter
Jahresthema: Die Grossen Zwölf
Monatsthema: Mitleid

Seine Augenlider schieben sich langsam aus dem Geröll klebrigen Grinds wie ein ängstlicher Schildkrötenkopf aus dem Schutz seines Rückenpanzers. Durch die Öffnung des im Wind flatternden Vorhangs sticht ihn die rheinische Morgensonne. Seine rechte Hand nähert sich langsam, vorsichtig seinem Kopf wie die Zange eines Bombenentschärfers der Zündung. Verdammt, denkt er, war das ein oder andere Glas zu viel, um die Gespenster zu vertreiben, die mit seinem neuen Mandat zurückgekehrt waren, ihre knochigen Finger jetzt in Form von blendenden Strahlen durch die nur halb geschlossene Jalousie nach ihm ausstreckten. Das eine oder andere Glas. Oder die eine oder andere Flasche.

Sein Kopf fühlt sich an wie in der engen Faust eines feindseligen Monsters. Er wird wach, versucht sich aus dem Bett zu wuchten, aber das Monster an seinem Kopf, das den Schraubstockgriff angesetzt hat, ist ebenfalls erwacht und auf seinen Fluchtversuch aufmerksam geworden. Es drückt fester zu, als er sich erhebt und in Richtung Dusche orientiert. Raus aus dem Korsett aus Schweiss und Polyester, das Nass wird guttun. Die Zunge klebt an seinem Gaumen, verdorrt wie ein Regenwurm auf einem Felsen der Salzwüste.

Während das Wasser auf ihn niederprasselt und langsam die Tentakel des Monsters löst, darf ich kurz vorstellen: Kai Renz steht hier unter dem Duschkopf in kalt, mit 95 kg Lebend-, davon 10 kg Übergewicht, Kurzhaarschnitt und Vollbart, ein Mann in den besten Jahren, hätte er sie nicht so versaut. Aber es würde zu weit führen, sein Drama in allen Facetten auszuleuchten. Was ihn jetzt beschäftigt, ist sein neuer Fall als Strafverteidiger.

Renz hatte während seines Jurastudiums parallel seine Unteroffizierslaufbahn vorangetrieben, und als sich nach dem 1. Examen nichts anderes ergab, war er losgezogen, die Freiheit auch am Hindukusch zu verteidigen. Er hatte gedacht, nach Tavor und Citalopram dies hinter sich gelassen zu haben, zwei Jahre später das 2. Examen, und nun schlug er sich mit seiner kleinen Kanzlei in der Nähe von Bonn durch. Aber der neue Fall bringt ihn wieder zurück in seine Albträume. Ein Mordfall unter afghanischen Flüchtlingen, und es ist kein Whodunit, sein Mandant hat offen und unbestreitbar abgedrückt. Und Renz darf nun die Scherben auflesen – und denkt an sein eigenes persönliches Afghanistan.

Erst Kundus, dann Feyzabad, bevor es nach Masar-i-Sharif ging. Dort dann eines Nachts Alarm im Lager. Lichter flackern an den Barackenvorhängen vorbei, ein Heulton lässt ihn hochfahren, Sirene oder Motor eines Fahrzeugs. Er springt aus der Koje, ist kurz darauf draussen, es ist kalt, laut, hektisch. Jetzt erkennt er den Laster, der nicht hierhin gehört. Was ist da drin, Benzin, Öl, Sprengstoff und Scherben? Stimmengewirr, radebrechendes Englisch. Ein Typ im Kaftan gestikuliert, ist nur Lebensmittellieferung, misunderstanding, Sir, sorry, misunderstanding, quatscht die ganze Zeit, aber sein Kompagnon im Führerhaus will nicht stoppen, und vorne stehen Schäfer und Streindl, herrschen den Kerl an, er soll seinem Fahrer sagen, dass er anhalten muss, doch der Kerl, der ausgestiegen ist, gestikuliert, das durchfurchte Gesicht jetzt rötlich umrandet vom Bremslicht des LKW, und Schäfer schreit Stopp!, und der Kerl nur Sir, please listen, Sir, und der Fahrer scheint gar nichts zu hören, hat der Lepra an den Ohren, brüllt Streindl, findet der das witzig, aber hier ist gar nichts witzig, und Renz findet gar nichts witzig, und dann macht es Peng aus seinem G36, auf die Windschutzscheibe legt sich ein Spinnennetz von Risslinien, und nun rollt der LKW aus und bleibt stehen. Schäfer dreht sich um, sieht Renz wie in einem Standbild angewurzelt stehen, das G36 im Anschlag, immer noch zielend, obwohl der Fahrer den Kopf über der Rückenlehne hängen lässt, über die Schläfe läuft Blut von der Stirn entlang und tropft auf die Mittelkonsole. In diesem Moment gerät der Lieferbote ausser sich, keift, schleudert die Fäuste in die Luft, schreit Murderers, fucking bastards und verwünscht sie im Übrigen auf Urdu. Dann sind endlich weitere Soldaten am Tor, doch Streindl wird immer nervöser, und Renz lässt die Waffe sinken und denkt, bleib ruhig, und er meint den Kaftanträger, und er denkt, bleib ruhig, und er meint Streindl, doch jetzt zittert Streindls Stimme beim Brüllen, und auf einmal setzt sich der Einheimische in Bewegung, rennt los, direkt auf Streindl zu, der Idiot, oder er wollte genau das, was jetzt kommt, Renz sieht es voraus, blickt eine Sekunde davor zur Seite. Bellen von Heckler & Koch, dann Ruhe. Jetzt werden die Kameraden umtriebig, bergen den toten Mudschaheddin, Schäfer stützt den zitternden Streindl an der Schulter. Dann ein Schrei von der Rückseite des LKW. Döpner hat die Tür geöffnet und kräht laut in die Nacht, Scheisse, Mann, das ist Gemüse. Das ist verschissenes Gemüse. Und Streindl schreit Was, und Schäfer sagt, Ey, warte erst mal, was, aber Streindl wartet nicht erst mal, was, sondern reisst sich los, schiebt Döpner zur Seite und blickt hinten in die Auslage des LKW in verschissenes Gemüse, in die verdammte Welt von Ballaststoffen, Vitamin B6 und B12, und dann reisst er die erste Kiste raus, die auf den von Reifen und schwerem Gerät festgedrückten Sandboden kracht und Salatköpfe rollen lässt, und dann reisst er die nächste Kiste raus, vollgefüllt mit Heu, mit Heu und Gras, wer will das kaufen oder fressen, aber so weit denkt Streindl nicht und reisst die nächste Kiste raus, auf den Lippen die Worte ein verschissener Gemüselaster, aber vor den Augen ein Kanister, aus dem Drähte ragen, und dann betäubt die Detonation alle Stimmen umher, wie unter Wasser schleichen sich die Stimmen dumpf an Renz´ Ohr, die Nacht von der Feuerwolke auf einmal hell erleuchtet, und auf die Kameraden regnet es Plastik- und Aluminiumverkleidung des LKW, Blätter des Tarngemüses aus dem Wagen und Hautfetzen von Streindl, und es stinkt nach brennendem Öl, verbranntem Plastik, verbrannter Haut. Renz kniet, während er nach unten blickt, als studiere er die von den LKW-Scheinwerfern angestrahlten Kiesel im Wellengang einer Pfütze, während er das Fauchen der Feuerlöscher hört. Ausgeleuchtet von den Flammen des LKW, reflektiert sein Gesicht wie in einem Spiegel, wer ist der Traumatisierteste im ganzen Land?

Am Vormittag hatten ihnen Kinder auf ihrer Patrouillenfahrt zugewunken.

Jetzt ist Renz soweit und schlurft aus seiner Wohnung. Durch den Laubteppich zieht ein humorloser Herbstwind, und Renz mag den Herbst, er erscheint ihm erwachsener als der pastellfarbene Frühling, der ist für Pussys. Renz schlägt den Kragen hoch. Er traut sich schliesslich hinters Steuer, Richtung Bonn, Untersuchungsgefängnis.

Der afghanische Mandant und offensichtlich Mörder seines als Integrationsvorbild gepriesenen Landsmanns heisst Khaled Quassim und hatte bislang konsequent geschwiegen. Und natürlich – so denkt Renz mit spöttischem Schnauben – hatte Quassim ausgerechnet den Pass auf der Flucht verloren, war nach einer niemanden so genau interessierenden Odyssee hier gelandet und sprach angeblich immerhin passabel Deutsch.

Und dann taucht er vor ein paar Tagen auf der Terrasse dieses Restaurants auf, auf der eine ehemalige Ortskraft aus Afghanistan, Elias Khan, mit einem bemühten Kommunalpolitiker und einem Dolmetscher sitzt, und Quassim zieht eine HK P8 aus der Tasche seines Anoraks, woher er auch immer diese Bundeswehrpistole hatte, und er feuert mit dem Ding vier-, fünfmal auf Khan, der leblos auf dem Stuhl zusammensackt, während der Bürgermeisterkandidat unter einem der benachbarten Tische Deckung sucht. Dann legt Quassim die P8 auf den Boden, setzt sich an einen der schnell leer gewordenen Tische und schaut auf seine Füsse wie ein verschüchterter Grundschüler, auf die Polizei wartend, die ihn kurz darauf festnimmt. Seitdem hatte er geschwiegen.

Keine Antwort auf das Warum. Religiöse Motive? Drogengeschäfte? «Ist immerhin Afghanistan,» hatte ihm der JVA-Beamte erklärt, aber aus seinem Mandanten sei nichts herauszubekommen gewesen.

Jetzt sitzt Renz ihm gegenüber, der Raum zweieinhalb mal drei Meter, ein hohes Gitterfenster, ein Tisch und zwei Stühle.

«Also, mein Name ist Renz. Ich bin Ihr Pflichtverteidiger, wäre also clever, wenn Sie mich als Ihren Helfer akzeptieren. Okay, fangen wir mal damit an, wie Sie heissen. Quassim, ja?» Quassim schweigt und walkt sich die Hände. Renz wartet kurz, ungeduldig.

«So, die Beweislage ist erdrückend, viele Zeugen – darunter ein bekannter Politiker und der Dolmetscher – Scheisse, warum braucht der einen Dolmetscher als Ortskraft? Egal. Fingerabdrücke auf der Tatwaffe, Schmauchspuren an den Händen. Sie haben also…» Renz spickt in die Akte, «Herrn Elias Khan getötet?» Quassim zieht die Schultern zusammen, als sei ihm kalt.

Renz zieht ungeduldig die Augenbrauen hoch, presst die angehaltene Luft durch die Zähne.

«Okay», beschliesst Renz, «wenn Sie mir nichts zu erzählen haben, dann können wir das gern auch abkürzen. Ich hab mich als Soldat schon genug mit Konflikten in Ihrem Land befassen dürfen, und wenn du hier her kommst, um zu morden, dann hab ich gar nichts dagegen, dass man dich einbuchtet. Naja, ist vielleicht der Grund, dauerhafter Aufenthalt, was? Lieber deutscher Knast als Afghanistan. Frag mich nur, wozu ich wie meine Kameraden unser Leben riskiert hab, aber ich werde jetzt nicht noch meine Zeit opfern…»

Quassims Händewalken wird immer stärker, es arbeitet in seinem Gesicht, und endlich haut er mit der flachen Hand auf den Tisch und beginnt in fliessendem Deutsch zu sprechen.

«Sind Sie bald fertig mit Ihrem Selbstmitleid? Tut mir leid für Sie, dass Sie nicht das Paradies gefunden oder wenigstens einen Orden bekommen haben. Sie brauchen mir nichts erzählen, glauben Sie mir, ich war bei allem dabei, für die Bundeswehr bis zuletzt, bis der Flughafen abgeriegelt…» Quassim verstummt wieder, wischt sich mit der Hand durch die kurzen schwarzen Locken. Renz braucht einen Moment, nimmt Haltung in seinem Stuhl an. Schaut sich um, als könne auf einmal ein unliebsamer Zuhörer erschienen sein. Dann beugt er sich vor und nickt selbstsicher, als habe er den Fehler in einem dieser Suchbilder in Illustrierten gefunden.

«Selbstmitleid, ja? Einen Orden, und ich denk ans Paradies, ja? Sie haben nicht hier in der U-Haft ein paar Brocken Deutsch gelernt. Und Elias Khan, die verdiente Ortskraft, taucht mit Dolmetscher auf. Was stimmt hier nicht? Herr Khan ist als Ortskraft hierhergekommen, ist er gar keine Ortskraft gewesen?» Quassim presst die Lippen zusammen, sein Oberkörper bebt in Anspannung, dann quetscht er die Worte durch die Zähne wie flüssig gewordenen Wackelpudding.

«Elias Khan ist Ortskraft in Afghanistan gewesen. Ihre Information ist schon richtig.»

«Aber dann verstehe ich nicht…», wendet Renz gestikulierend ein, und jetzt bricht es aus Quassim heraus.

«Weil ich Elias Khan bin. Verdammt, ich bin das. Die Fälschung ist nicht der Name, sondern die Person dahinter.» Stille. Nur langsam löst die Erkenntnis Renz´ ungläubigen Blick.

«Moment, Moment,» erwidert er. «Sie sind die Ortskraft Elias Khan, die hier mit grossem Tamtam erwartet wurde, ja? Aber…und wer ist dann…»

«Omar Farouqui. Trat auf wie ein…Sie nennen das wohl Schleuser. Ich hab ihm alles Geld gegeben, das ich auftreiben konnte…»

«Scheisse, aber wenn das so ist…warum sagen Sie das erst jetzt, was soll das…?» Renz hebt mit empörter Geste die Arme, während Khan mühevoll Haltung annimmt und zu reden beginnt.

«Es ist keine stolze Geschichte. – Nach Abzug der Amerikaner sind die Taliban in Kabul einmarschiert; dürften Sie mitbekommen haben. In kurzer Zeit waren die Wege zum Flughafen gesperrt, es hiess, es würden nur noch die Ausländer rausgelassen. Aber ich gehörte mit meiner Familie zu den wenigen, die die nötigen Papiere hatten, um ausgeflogen zu werden. Dann kam eines Morgens Farouqui zu unserem Safe House, sagte, auch für uns gebe es auf direktem Weg keine Chance mehr. Ich hätte ja wohl mitbekommen, dass die Deutschen keine grossen Mühen entfalteten, ihre Ortskräfte zu retten. Er kenne aber ein Schlupfloch für uns. Wir müssten ihn natürlich bezahlen…und schon einmal unsere Papiere und Ausweise aushändigen.»

Khan atmet durch, schliesst die Augen, als könne er sich damit aus der Zelle zurück zu den Ereignissen in Kabul versetzen.

«Er verschwand damit, hat meinen Ausweis offenbar so gefälscht, dass er als ich durchgegangen ist. Hat sich hier öffentlichkeitswirksam inszeniert. Ich musste ohne Papiere mit meiner Frau und meinem Kind…meinem Jungen, Moab…ich musste versuchen, uns irgendwie zum Flughafen zu bringen und mitgenommen zu werden. Es hiess, die Safe Houses würden nach und nach aufgespürt…»

Jetzt sitzt sein Mandant mit verzweifelt ausgebreiteten Armen vor ihm, als wolle er noch etwas festhalten, das aber nicht mehr da ist. Er stammelt: «Meine Frau und…Moab, sie beide haben es nicht geschafft. Es gab eine Auseinandersetzung, als die Taliban uns festhalten wollten, und ich wollte ihnen noch helfen, wollte…es ging nicht, ich konnte sie nicht schützen, wir wären alle drei umgekommen, ich konnte nur noch versuchen, über die Absperrung, und ich hab die Schüsse gehört, und Schreie, und…und…aber ich bin durch, und die Amerikaner haben mich rausgebracht.»

Khan verstummt, verbirgt sein Gesicht in seinen Handflächen. Dann murmelt er: «Jetzt bin ich hier, und als ich vom Auftritt von Elias Khan gehört habe, hab ich nur eine Antwort für Farouqui gewusst.»

Renz nickt. Schnauft. «Machen wir uns nichts vor, Ihr Motiv ist nichts Edleres als schlicht Rache an diesem Mistkerl. Aber…» Renz deutet mit wippendem Finger auf Khan. «…Wenn wir die Geschichte richtig bringen, wenn die Untersuchung der Papiere Ihre Story stützt, dann mach ich aus Ihnen statt dem rachsüchtigen Mörder ein bemitleidenswertes Opfer. Mann, die Scheisse, die Sie erlebt haben, ich sag Ihnen, die Richter sind auch nur Menschen. Die werden Mitleid haben.»

Renz baut sich jetzt vor Khan auf, gestikuliert entschlossen, als habe er den Schlachtplan zum unverhofften Sieg intuitiv erschaut. «Passen Sie auf, ich dreh das zu einem Totschlag, und zwar im minder schweren Fall, ja, wir machen Ihre Familie zu Farouquis Opfern, die Richter werden Sie einfach nicht als Mörder verurteilen wollen, verstehen Sie?»

Khan schüttelt langsam den Kopf, und das gerade als junge Knospe aufkeimender Begeisterung erstrahlte Lächeln auf Renz Gesicht versinkt wieder im Schatten.

«Das will ich nicht,» entscheidet Khan. «Ich hab meine Familie zurückgelassen, verstehen Sie? Ich hab alles verloren. Ich will nichts mehr. Und ganz sicher will ich kein Mitleid, mit dem ich noch den letzten Rest Selbstachtung verliere. Ich werde nicht sagen, ich sei das Opfer. Meine Frau ist das Opfer. Und Moab…»

Renz lässt die Arme sinken. «Wollen Sie sich selbst bestrafen? Weil Sie sie nicht haben retten können?»

«Ich hab nur meine Geschichte erzählt», krächzt Khan. «Wenn Sie eine andere Geschichte für Ihre Verteidigung benötigen, vielleicht erzählen Sie einfach Ihre.»