Juni 2022

Beistand

von Elisabeth Poleschinski
Jahresthema: 1 Ort – 1 Gegenstand – 1 Genre
Monatsthema: Auf dem Rütli – Kulturbeutel – Tagebuch

1.

Liebes Tagebuch,

entschuldige, dass ich jetzt ein paar Tage nicht geschrieben habe. Ich war auf dem Rütli. Also nicht in echt jetzt. Nicht in persona. Per Wikipedia. Ich weiss ja nichts über die Schweiz, ausser das, was wir in der Schule gelernt haben. Genau, das war die Schweiz bisher. Ein Land, das man im Geografieunterricht diskutiert, aber nicht viel, weil es nicht viel zu diskutieren gibt. Kein Land, wo man hinfährt. Zu nah, zu wenig anders. Da war man sozusagen schon dort, indem man zu Hause bleibt.

Rütli bedeutet «kleine Rodung». Das ist so eine Bergwiese auf der anscheinend alles angefangen hat mit der Schweiz. Man traf sich dort, um einander Beistand zu schwören, und danach gab es ein Land. Oder so. Ich habe nicht den ganzen Wikipediaartikel gelesen. Er enthielt sehr viel Text und ein Bild, auf dem drei Männer in viel zu kurzen Röcken in den Himmel starren, drei Hände in der Mitte übereinandergelegt, drei in der Luft, und ein Schwert. Beistand, das bedeutet, dass man einander aushilft. Dass man aufeinander schaut. Eine schöne Sache. Aber es ist anscheinend auch nur eine Legende. Der Rütlischwur, meine ich.

Was soll ich denn in der Schweiz? Ich habe schon ein Bankkonto und bin laktoseintolerant. Was Kühe und Almen betrifft, bin ich hier bestens bedient, danke schön. Aber Mama hat diese fixe Idee, dass ich aus meiner gewohnten Umgebung raus muss, um mich zu enttraumatisieren oder so. Wobei sie natürlich nicht von Trauma redet. Sie redet von «der Sache mit L.» und davon, dass ich noch immer «durcheinander» bin. Davon, dass ich «auf andere Gedanken kommen» und das Ganze vergessen soll. Ausgerechnet in der Schweiz. Wir haben über die Schweiz gesprochen an jenem Tag, im Geografieunterricht. Darüber, wie die Schweizer immer neutral sind und sich aus allem raushalten und nie Position beziehen.

Liebes Tagebuch, wie ist man denn nicht durcheinander? Was ist denn da das Gegenteil davon? Ordentlich? Mein Zimmer ist sehr aufgeräumt. Ich habe extra alle rumliegenden Klamotten verräumt, um Mama in gute Stimmung zu versetzen. Ich wollte sie ausfragen, was das soll mit der Schweiz, aber sie kam erst spät heim, wie öfter in letzter Zeit. Wenn sie müde ist, redet man sie am besten nicht an, ausser man hat einen Einser zum Unterschreiben. Ben und ich haben ein System entwickelt: Wer zuerst auf Mama trifft, klebt ein Post-it mit lachendem oder traurigem Gesicht auf den Kühlschrank. Dann weiss man schon, ob es ein guter Moment ist, sie zu fragen, ob man am Wochenende zur Party darf, oder ob man noch einen extra Zehner für den Schulausflug kriegt, oder wie es Papa geht.

So, und jetzt entschuldige mich. Ich muss vor dem Schwimmen morgen noch einen Rütli unter den Achseln machen.

 

2.

Liebes Tagebuch,

ich habe jetzt herausgefunden, warum Mama ausgerechnet Genf ausgesucht hat für den Schüleraustausch. Ist ihr zwischen zwei Gabeln Penne so rausgerutscht. Anscheinend hat sie da wohl einen Verflossenen und Nostalgiegefühle gegenüber der Stadt und so. «Wer ist das denn», fragte Ben grinsend, als sie plötzlich irgendwas von «damals mit Thibault» faselte, und sie wurde ganz rot auf den Wangenknochen, wie normalerweise nur vom Wein. Was ist das auch für ein Name, Thibault. Da musste ich für dich erst mal ergoogeln, wie man das schreibt. Jedenfalls sagt Mama, Genf ist ganz anders als die deutschsprachige Schweiz, das ist quasi schon Frankreich. Wo ich mich dann frage, ob denn Cannes und Saint-Tropez schon vergeben waren, dass man mich zwanghaft von zwischen den Bergen zwischen die Berge verfrachten muss.

Ich hätte Mama gerne gefragt, was Papa davon hält, dass sie mich an die Grenze zu Frankreich schickt, damit sie sich vorstellen kann, wie ich in einem Idyll ihrer Erinnerung meine innere Ruhe finde, aber ich habe es dann nicht gemacht. Eigentlich würde ich Papa einfach gerne selbst fragen, was er machen würde.

Ich habe jetzt auch schon die Packliste bekommen für die Schweiz. Bergschuhe soll ich mitbringen, für «Ausflüge in die Umgebung». Was habe ich dir gesagt? Das wird Urlaub daheim, ohne frei zu haben. Einen «Kulturbeutel» soll ich auch mitbringen. Was soll ich da für Kulturen reintun, vielleicht die, die auf meiner Zahnbürste wachsen? Mama hat mir erklärt, dass das eine Toiletttasche ist, das habe ich auch selbst kapiert, aber das Wort ist echt blöd. Mama weiss manchmal nicht so recht, was sie mir erklären muss und was nicht. Meistens erklärt sie, was offensichtlich ist, wie zum Beispiel, dass sie kein Goldesel ist. Oder dass man Binden nicht ins Klo werfen darf. Bitte, Mama! Ich habe ein Mooncup. Komm mal im 21. Jahrhundert an. Was Mama auch nicht weiss, ist, wie viel ich tatsächlich vergessen muss bezüglich L. Aber sie glaubt zu wissen, dass ich das ausgerechnet in Genf tun werde.

Ben hat übrigens sein Praktikum bekommen für den Sommer. Er wird im Parkbad dem Bademeister helfen. Im Endeffekt wird er wahrscheinlich den ganzen Tag rumstehen, einen Sonnenbrand bekommen und ab und zu Kaffee kochen. Aber irgendwie scheint mir das trotzdem nützlicher, als in die Schweiz zu fahren, nur weil das mit L. passiert ist. Gerade weil das mit L. passiert ist.

Na gut, das muss für heute reichen! Ich muss ja noch diesen mysteriösen Kulturbeutel packen, für den wahrscheinlichen Fall, dass ich es nicht mehr schaffe, noch irgendwie aus dieser Sache rauszukommen. Ich halte dich auf dem Laufenden.

 

3.

Liebes Tagebuch,

ich bin nicht rausgekommen. Mein Zug geht morgen. Ich habe alles gepackt, was ich brauche, glaube ich, aber es ist mir auch ein bisschen egal, ehrlich gesagt. Apropos ehrlich. Es gibt etwas, das ich dir noch nicht gesagt habe. Ich wusste, dass L. nicht schwimmen kann. Da, ich hab’s gesagt. An jenem Tag habe ich nichts gesagt, und auch nicht danach. Das wissen nur du und ich. Und L. Ich stand am Rand, das Lachen flog bei meinen Ohren herein und surrte gefangen in meinem Kopf, und ich habe nichts gesagt. Und jetzt soll ich das in einem unserer Nachbarländer vergessen und «wieder zu mir selbst finden». Ich glaube nicht, dass ich mich davor gefunden hatte, denn sonst wäre ich ja dagewesen, wirklich da, so da, dass man auch reagieren kann. Ich glaube nicht, dass ich ein Selbst wiederfinden kann, das es anscheinend nicht gibt, weil es sonst ja irgendetwas gemacht hätte. Verstehst du mein Dilemma? Dann bist du ziemlich gut. Ich verstehe es nämlich selbst nicht so richtig. Es ist, als gäbe es mich überhaupt nicht. Als wäre ich nur eine Hülle, in der nichts drin ist, wie ein Wahlkuvert, in das man vergessen hat, einen Stimmzettel zu stecken.

Wenn ich an jenen Tag denke, brummt noch immer das Lachen von innen gegen meine Stirn, wie eine dieser Fliegen, die nie das offene Fenster finden. Ich glaube, ich habe auch mitgelacht. Ich bin mir nicht sicher, aber ich halte es für wahrscheinlich. Habe gelacht und die Lippen nicht aufbekommen dabei.

Liebes Tagebuch, was mache ich denn jetzt? Ich muss das entscheiden, bevor ich nach Genf fahre. Die Schweiz ist in allem neutral, ausser man schwört sich gerade auf irgendwelchen Bergwiesen Beistand, was aber nur eine Legende ist. Dort wird sich meine Hülle nicht füllen, auch wenn mein Koffer noch so voll ist. Ich musste mit beiden Händen die Sachen plattdrücken, damit Ben den Reissverschluss zuziehen kann, und jetzt sind sicher alle Mannerschnittenmitbringsel zergatscht.

Ich würde so gern mit L. reden. Noch einmal mit ihr im Gras zwischen den Gänseblümchen stehen. Sie würde mich noch einmal auf ein Eis einladen wollen und diesmal würde ich sagen: «Ja, gerne.» Wir würden dran schlecken, ich an Himbeere, sie an Schoko, und ich würde sie näher kennenlernen und sie wäre total nett und überhaupt nicht so unleidlich wie im Unterricht. Und am nächsten Tag würde ich am Wasser stehen und das Lachen hinter der Stirn ausblenden und sagen: «He, hört auf.» Aber ich weiss, dass es nie so passieren könnte, weil es so nicht passiert ist.

Mein Zug geht morgen früh kurz vor zehn. Vielleicht lasse ich dich einfach hier, unversperrt, auf dem Nachttisch. Bitte sei mir nicht böse.