Sommer­lese­tipps

Kathrin Berger, Bibliothek

Emmanuel Carrère «Yoga»

Ein Buch über Yoga und Meditation hatte er schreiben wollen, «ein heiteres, feinsinniges Büchlein»  doch dann holte die Realität den Autor ein: Während er im Vipassana-Retreat in der Nähe von Paris auf seinem Meditationskissen sitzt, stirbt ein guter Freund beim Anschlag auf «Charlie Hebdo», schmerzhafte Erinnerungen überfluten ihn, und er bekommt eine bipolare Störung diagnostiziert, die in einer Klinik behandelt werden muss. Vier Jahre später unterwirft sich Carrère einer schonungslosen Selbstanalyse, und diese liest sich, trotz der heftigen Themen, vergnüglich, tiefsinnig und wahnsinnig spannend, denn der Autor verwebt mühelos existenzielle und philosophische Betrachtungen mit Persönlichem, verliert selten die ironische Distanz zu sich selbst und schreckt auch vor den eigenen Abgründen nicht zurück. Lesend begleitet man ihn in die Psychiatrie und später auf die Insel Leros, wo er jungen Geflüchteten Schreibkurse gibt. Das Buch ist Essay, Autobiografie und Roman in einem, und man erfährt tatsächlich einiges über Yoga und Meditation, aber gleichzeitig viel mehr: «Was es heisst, ein in den Wahnsinn der heutigen Welt geworfener Mensch zu sein.» Das Buch kann kaum aus der Hand gelegt werden, so süffig liest es sich.

Matthes & Seitz, Berlin 2022, aus dem Französischen von Claudia Hamm / Signatur MUG: N 7039

Annette Erzinger, Bibliothek

Ayanna Lloyd Banwo “When We Were Birds” / «Als wir Vögel waren»

When we were birdsist eine Liebesgeschichte, eine Geistergeschichte und ein Krimi voller Magie und Melancholie. Die Mythen und Fabeln, welche in den Roman Einzug finden wie auch die kreolisch-Englische Sprache geben dem Buch einen Sog, von welchem man sich gerne mitreissen lässt. Der Roman spielt in der fiktiven Stadt Port Angeles auf Trinidad, speziell auf deren Friedhof Fidelis. Dort muss Emmanuel Darwin einen Job als Totengräber annehmen, weil er keine andere Arbeit findet und seine Mutter Medizin braucht. Nur ist Emmanuel Rastafari und seine Religion verbietet ihm den Kontakt mit Toten. Er rasiert seine Dreadlocks und erkennt sich selbst nicht wieder. Auf Fidelis trifft Darwin Yejide, deren Mutter verstorben ist. Yejide kommt aus einer Traditionsreichen Familie, von Ihrer Mutter und Grossmutter erbt sie nicht nur das alte Familienhaus, viele alte Geschichten und Legenden, sondern auch die Gabe mit den Vögeln verbunden zu sein, welche die Seelen der Toten wegtragen. Die Nekromanin und der Rastafari verlieben sich. Aber natürlich ist das noch nicht alles. Es gibt einen Bösewicht, die Seelen der Toten sind unruhig und Stürme ziehen auf.

Doubleday,  New York 2022 / Diogenes Verlag, Zürich 2023, deutsch aus dem trinidad-kreolischen Englisch von Michaela Grabinger  / Signaturen MUG: Q 1745 (englisch), N 7645 (deutsch)

Sandra Gubler, Literaturhaus

Daniela Dröscher «Lügen über meine Mutter»

80er Jahre in der deutschen Provinz: Feminismus, Patriarchat, Care-Arbeit, gesellschaftlicher Status – diese Themen verhandelt Daniela Dröscher im «Kammerspiel namens Familie». Die Mutter erfährt grobes Bodyshaming durch ihren Ehemann. Erzählt wird aus der Perspektive der Tochter und was die Beobachtungen mit dem Mädchen, der heranwachsenden Frau machen. Dazwischen flechtet die Autorin Reflexionen und Gespräche mit der Mutter als Erwachsene ein, womit sie Brücken in die Gegenwart baut. Trotz der Tragik ist das Buch äusserst unterhaltsam und löst vielerlei Emotionen und Reaktionen aus: ungläubiges Staunen, herzhaftes Lachen, entfacht den Gerechtigkeitssinn, löst Wut aus… Eine weitere Besonderheit sind die diversen Zitate aus Büchern und Songs – von Dickinson über Monaco Franze und Jennifer Beal (Flashdance) bis Dagobert Duck. Das Buch war auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022 / Signatur MUG: N 7226

Beatrice Mascarhinhos, Lesesaal

Dörte Hansen «Mittagsstunde»

Dörte Hansens Roman spielt im fiktiven Dorf Brinkebüll in Nordfriesland. In Rückblenden wird erzählt, wie die dörfliche Kultur in wenigen Jahrzehnten zerstört wurde durch rücksichtslose Begradigung der Landschaft, die Schaffung von Monokulturen und Grossbetrieben. Leise melancholisch, sachlich und frei von Sentimentalitäten streut die Autorin mit viel Witz und bitterlichem Ernst Erinnerungen an die Dorfschule, Hochzeiten im Dorfkrug, an das Beschränkte, Umständliche und Enge des Dorflebens ein. Eine Welt, die verschwindet und nur Verlierer zurücklässt.

Penguin Verlag, München 2018 / Signatur MUG: N 4807

Julia Merz, Literaturhaus

Teresa Präauer «Mädchen» 

Wann ist ein Mädchen ein Mädchen? Wann wird ein Mädchen zu einer Frau, ein es zur sie? Und wo ist die Grenze zu einem Jungen? – Das Buch der österreichischen Schriftstellerin, das auf ihren Poetikvorlesungen im Literaturhaus basiert, widmet sich vollkommen der Figur des Mädchens. In literarischer, sprachlicher und kultureller Hinsicht wird das Mädchen dekonstruiert und neu definiert. Die Autorin lässt in ihre Gedanken blicken und erzählt auch aus eigenen Erfahrungen vom Mädchen-Sein. Dass die Erzählerin während ihren Überlegungen von einem kleinen Jungen gefesselt auf dem Boden eines Kinderzimmers liegt und ihre eigene Kindheit mit seiner vergleicht, passt einfach dazu. Präauer verbindet autobiographische Erzählungen mit kulturellen und literarischen Überlegungen in einem dünnen Buch, das in jedem überpackten Koffer Platz findet. Für jede*n, die*der in der Sonne liegend über Kindheit, Rollenbilder und das Mädchen-Sein nachdenken mag.

Wallstein Verlag, Göttingen 2022 / Signatur MUG: N 6984

Gesa Schneider, Literaturhaus

Bernardine Evaristo «Mr. Loverman» 

Ein grosser Spass und die perfekte Ferienlektüre: Im Zentrum dieses Romans von Bernardine Evaristo steht Barrington Jedidiah Walker, aus Antigua, er lebt seit über 50 Jahren mit seiner Frau in London, ebenso lange ist er aber auch heimlich mit seinem Jugendfreund Morris liiert. Bis er sich vornimmt, sein Leben zu ändern und doch endlich allen zu zeigen, wer er wirklich ist. Das ist Stoff für eine ganz wunderbare Comedy of Manners, wunderbar auch deshalb, weil Bernardine Evaristo mit messerscharfem Blick nichts und niemanden verschont. Auf Englisch wurde der Roman schon 2013 veröffentlicht, nach «Mädchen, Frau etc.» ist dies der zweite Roman von Bernardine Evaristo, der auf Deutsch erscheint.

Tropen Verlag, Stuttgart 2023, aus dem Englischen von Tanja Handels / Signatur MUG: N 7635

Mirjam Schreiber, Bibliothek

Irmgard Keun «Kind aller Länder» 

Der Exilroman von Irmgard Keun ist 1938 bei Querido in Amsterdam erschienen. Die zehnjährige Kully beschreibt aus ihrer Perspektive ihr rastloses Leben in der Emigration. Der Vater ist ein Schriftsteller, dessen Werke in Deutschland verboten sind, ein Spieler und ein Gewohnheitstrinker, «von dem jeder sagt: Dieser Mann hätte nie heiraten dürfen». Seine Bücher verkaufen sich im Exil schlecht, Geld ist Mangelware. Die kleine Familie taumelt auf der Suche nach Einkünften quer durch Europa und sogar bis nach Amerika. Gewohnt wird in Hotels, deren Rechnung kaum je beglichen werden können. Melancholisch, aber voller Witz und Charme und auch nach über 80 Jahren noch aktuell.

Kiepenhauer & Witsch, Köln 2017 / Signatur MUG: N 3052

Isabelle Vonlanthen, Literaturhaus

Tessa Hadley «Sonnenstich. Erzählungen.» 

Ein in vieler Hinsicht ideales Sommerbuch! Der kleine Band liegt kompakt in der Hand, passt in jede Badetasche oder jeden Wanderrucksack, auf dem Cover leuchten blaues Meer und roter Sonnenschirm, und schon nur der Titel lässt an heisse Sommertage denken. So kurz und kompakt die Aufmachung, so gewichtig – und doch leicht – sind die Geschichten! Tessa Hadley schreibt über Beziehungen, über kurze Flirts, unerwartete Liebschaften, Aufbrüche aus dem Alltag, oft vor dem Hintergrund von Tagen am Strand, in einem Ferienlager oder einem Cottage in West Wales. Ihre Figuren sind junge, erschöpfte Mütter, gestandene Professorinnen, dreizehnjährige Jungs – wir lernen sie nur kurz kennen und wollen doch unbedingt bei ihnen bleiben, in jeder Geschichte, jedem Satz. Und diese Sätze, überhaupt die Sprache von Tessa Hadley haben es in sich, so schön, so fein, so wuchtig auch erzählt sie. Hadley fand erst spät zum Schreiben, ihren ersten Roman veröffentlichte sie mit 46. Seither wurde sie für ihr Werk, das Romane und Kurzgeschichten umfasst, oft ausgezeichnet. Im Zürcher Kampa Verlag erschienen bisher auf Deutsch die Romane «Zwei und zwei», «Hin und zurück» sowie «Freie Liebe».

Kampa Verlag, Zürich 2023, aus dem Englischen von Marion Hertle und Thomas Bodmer / Signatur MUG: P 8295 (die englische Originalausgabe “Sunstroke and other stories”)

Andrea Wilhelm, Lesesaal

Amitav Ghosh «Der Glaspalast»

Sommer 2022, der ganze Stapel mitgebrachter Ferienlektüre ist schon durch – da stosse ich in einer Bücherkiste unverhofft auf ein Buch, in dessen Welt ich in den folgenden Tagen komplett eintauche und das mich bis heute nicht losgelassen hat. «Der Glaspalast» von Amitav Ghosh beginnt 1885 in Mandalay: Der 12-jährige Rajkumar muss miterleben, wie die britischen Truppen in Burmas damaliger Hauptstadt einmarschieren und die burmesische Königsfamilie ins indische Exil vertreiben. Über mehrere Genrationen hinweg folgt der Roman Rajkumar und seiner Familie, bis ins späte 20. Jahrhundert. Und schildert dabei vor allem auch eindrücklich und detailreich die Geschichte des Landes und der Region. (Für alle, die nach den 600 Seiten wie ich bestürzt sind, dass das Buch schon zu Ende ist: in der unserer Bibliothek finden sich glücklicherweise zahlreiche weitere Werke des Autors, auf Deutsch und auf Englisch!

Karl Blessing Verlag, München 2000 / Signatur MUG: J 4236